Marsilio Ficino

...und die Wahrheiten in Platons Atlantisbericht

Abb. 1 Marsilio Ficino (1433-1499) übersetzte Platons Gesamtwerk ins Lateinische.

(bb) Marsilio Ficino (Abb. 1) (* 19. Okt. 1433 in Figline Valdarno - † 1. Okt. 1499 in Careggi bei Florenz) war ein katholischer Priester, der als Humanist und Philosoph zu den Leitfiguren der Renaissance in Italien, und insbesondere des Renaissance-Humanismus in Florenz, gehörte. [1] Während Ficino, der über ein enormes Wissen über die Welt des Altertums und insbesondere über Kultur und Religion der Alten Griechen und Ägypter verfügt haben soll, heute zumeist nur noch Historikern und Philologen ein Begriff ist, ging der von ihm geprägte Ausdruck "Platonische Liebe" ins sprachliche Allgemeingut ein. [2] "Sein Hauptanliegen war", wie es bei Wikipedia zusammenfassend heißt, "eine zeitgemäße Erneuerung der antiken Philosophie. Deren Kern bildete für ihn die Lehre Platons, die er im Sinne der von Plotin begründeten neuplatonischen Tradition deutete. Wie schon viele mittelalterliche Denker, aber auf weitaus breiterer und soliderer Quellenbasis als sie bemühte er sich um ein Verständnis des antiken Platonismus, das diesen harmonisch mit den Grundüberzeugungen des Christentums verbinden sollte." [3]

Aus atlantologie-geschichtlicher Sicht sind Marsilio Ficino und sein Werk von besonderer Bedeutung, da er der erste war, der - unter dem Mäzenat des mächtigen Florentiner Patriziers Cosimo de Medici (Abb. 2) - Platons Gesamtwerk (und somit auch die Dialoge Timaios und Kritias) ins Lateinische übersetzte. Tony O’Connell merkt dazu an: "Unglücklicherweise sind die von ihm verwendeten, griechischen Original-Dokumente später verloren gegangen. Es wird behauptet, dass ein Vergleich von Ficinos Übersetzung mit der Teilübersetzung des Timaios durch Calcidius ein etwas saloppes Vorgehen seitens beider Männer erkennen lasse, was eine mögliche Quelle vieler der Probleme sein könnte, denen man bei der Suche nach Atlantis begegnet." [4]

Abb. 2 Marsilio Ficinos Mäzen Cosimo de Medici (1389-1464)

Zu Marsilio Ficinos, den Charakter des Atlantisberichts betreffenden, Meinung erfahrem wir bei Pierre Vidal-Naquet (1930-2006) in aller Kürze, dass der Übersetzer erklärt habe, "dieser Bericht sei wahr, aber wahr in der platonischen Bedeutung des Wortes, was nicht die Möglichkeit eröffne, Atlantis auf einer Landkarte zu verzeichnen." Und dann fügt er - etwas kryptisch - hinzu: "Seine Erklärung stützt sich allerdings auf das Land der Bibel." [5]

Abb. 3 Auf der Suche nach der oder den Wahrheit/en in Platons Atlantida kann Marsilio Ficino noch heute Denkanstöße liefern.

Nun sind die Angaben des französischen Althistorikers, jedenfalls wenn es um Atlantis geht, stets mit einer gehörigen Portion Vorsicht zu 'genießen', denn in seinem mehr als angestrengten Bemühen, die Fiktionalität der platonischen Atlantida zu beweisen, neigte er zu einer - freundlich formuliert - durchaus selektiven Wahrnehmung und Präsentation des entsprechenden Quellenmaterials. So kann es kaum verwundern, dass ein anderer Historiker, Manfred Petri, in seiner 1990 publizierten Dissertation [6], gerade Ficino und dessen Argumentation als beispielhaft für diejenigen Renaissance-Autoren benennt, welche "Beweise für die vollständige oder partielle Wahrheit der Atlantiserzählung" [7] zu liefern bemüht waren - und hier ist unzweifelhaft die historische Wahrheit (Historizität), nicht aber eine philosophische Wahrheit im platonischen Sinn gemeint. "Sie kamen stets darauf zurück, daß die Erzählung zwar [und hier zitiert er gezielt Ficino; bb] >valde mirabilis, sed omnino verus< [8] sei, denn Platon habe im Timaios und im Kritias über seine Quellen sorgfältig Rechenschaft abgelegt und außerdem in seinen übrigen Texten eigene Erfindungen auch stets als solche ausgewiesen. Auch das hohe Alter (9000 Jahre), das er diesem Ereignis zuschrieb, dürfe den Leser nicht gegen den Autor einnehmen, da die hier genannten Jahre - folgt man Eudoxos - keine Sonnenjahre[,] sondern nur Monate bezeichnen." [9]

Noch interessanter wird die Angelegenheit, wenn Manfred Petri weiter ausführt: "Dies hinderte Ficino, von dem diese Standardinterpretation stammte, allerdings nicht, eine allegorische Interpretation für angemessen zu halten, da auch Platon eine anagogische Absicht verfolgt habe [...] Insgesamt gesehen, harmonisierte Ficino Platon auch mit der biblischen Wahrheit, insbesondere mit dem mosaischen Bericht [...] Atlantis wird hier zu einem historisch wahren Ereignis, das in die Zeit vor der Sintflut verlegt, und dessen Erzählung einen anagogischen Sinn erfüllte, weil [sie] mit der mosaischen Paradieserzählung in Einklang zu bringen war. Damit finden sich bei Ficino die drei zukünftigen Interpretationsstränge vereint: ein rein auf die historische Wirklichkeit der Ereignisse abzielender, ein biblischer und ein allegorischer." [10]

Wir können somit abschließend zwei Feststellungen treffen: Zum einen ist die Behauptung Pierre Vidal-Naquets (der sich im Gegensatz zu Manfred Petri lediglich auf Sekundärliteratur stützte [11]), Marsilio Ficino habe den Atlantisbericht ausschließlich im Sinne platonischer Philosophie für "wahr" gehalten, offenkundig unzutreffend. Zweitens - und dies ist vermutlich noch bedeutsamer - erkennen wir, dass es in der frühen neuzeitlichen Exegese der Atlantida noch keinen prinzipiellen (und nur scheinbar zwangsläufigen!) Antagonismus zwischen allegorischer und quasi-historischer Interpretation der Atlantiserzählung gegeben hat. Ficinos umfassender Betrachtungs-Ansatz kann womöglich noch heute - freilich unter veränderten Rahmenbedingungen [12] - sowohl Klassischen Philologen als auch Atlantisforschern hilfreiche Denkanstöße liefern.





Anmerkungen und Quellen

Vorwiegend verwendete Materialien:


Einzelverweise:

  1. Quellen: Tony O’Connell, Ficino, Marsilio, bei: Atlantipedia.ie, 7. Juni 2010; sowie: Wikipedia - Die freie Enzyklopädie, unter: Marsilio Ficino (beide abgerufen: 29.01.13)
  2. Quelle: Tony O’Connell, op. cit.
  3. Quelle: Wikipedia - Die freie Enzyklopädie, unter: Marsilio Ficino
  4. Quelle: Tony O’Connell, op. cit.
  5. Quelle: Pierre Vidal-Naquet, "Atlantis - Geschichte eines Traums", C.H. Beck, 2006, S. 56-57 --- Vidal-Naquet merkt in einer Fußnote (92) an: Vgl. R. Marcel, Marsile Ficin, 1433-1499. Ed. Belles Lettres, 1958, S. 630-631, und zum Kontext J.-Ch. Saladin, La Bataille du grec à la Renaissance, Ed. Belles Lettres, 2004
  6. Siehe: Manfred Petri, "Die Urvolkhypothese - Ein Beitrag zum Geschichtsverständnis der Spätaufklärung und des deutschen Idealismus" (Historische Forschungen Bd. 41), Berlin (Duncker & Humblot), 1990
  7. Quelle: Manfred Petri, op. cit., S. 62
  8. Übersetzung: "...sehr wunderlich, aber gänzlich wahr"; d. Red. --- Quellenangabe bei Petri: Ficino, Marsilio, Omnia divini Platonis opera, Basel 1532, S. 675, 738f.
  9. Quelle: Manfred Petri, op. cit., S. 62
  10. Quelle: ebd., S. 62-63
  11. Anmerkung: In der Bibliographie von "Atlantis - Geschichte eines Traums" sind Marsilio Ficino und sein Werk nicht vermerkt. Des weiteren siehe oben Fußnote 5!
  12. Anmerkung: So spielt z.B. der Aspekt 'religiöser Wahrheit' im Atlantisbericht zumindest aus atlantologischem Blickwinkel heute keine nennenswerte Rolle mehr. Was die moderne Atlantisforschung angeht, ist er selbst bei atlantophilen Theologen wie Jürgen Spanuth oder Günther Kehnscherper schon im 20. Jahrhundert kein besonderes Thema mehr gewesen, sondern für sie waren lediglich - im Kontext ihrer Interpretationsmodelle - bibelarchäologische Randaspekte (z.B. zum Ursprung der Philister) von einigem Interesse.


Bild-Quellen:

(1) Tony O’Connell, Ficino, Marsilio, bei: Atlantipedia.ie, 7. Juni 2010

(2) Andreas Praefcke, bei: Wikimedia Commons, unter: File:Verrocchio Cosimo de Medici.jpg

(3) Wikimedia Commons, unter: File:Plato.png